DV:Produktion und Regie
von Alfi Sinniger (Produzent) und Ulrike Koch (Regisseurin)
Die Salzmänner von Tibet, ein epischer Film
Alfi Sinniger produzierte den langen Dokumentarfilm "Die Salzmänner von Tibet" von Ulrike Koch. Der Film wurde mit einer Digitalkamera (VX-1000) gedreht und anschliessend auf 35mm gefazt.
Dies ist einer der ersten ausschliesslich auf DV gedrehten und gefazten Filme. Seine Produktionsgeschichte ist deswegen von speziellem Interesse.
Ursprünglich war der Film in klassischer Arbeitsweise auf Super 16 mit anschliessendem Blow-up auf 35mm geplant. Ulrike Koch stellte sich einen grossen Dokumentarfilm vor, wo die Schönheit der Bilder eine wichtige Rolle spielen würde. Die ganze Vorbereitung war für einen Dreh auf Film hin gedacht: das Material, die Equipengrösse und das Budget (900'000 SFr.). In den Koproduktionsverträgen stand natürlich "Dreh auf Super 16".
Drehen auf DV: Die Not verwandelt sich in eine Freiheit
Da es nicht gelang, von den chinesischen Behörden eine Drehgenehmigung bekommen, beschlossen Alfi Sinniger, Ulrike Koch und der Kameramann Pio Corradi, auf DV zu drehen. Die kleinen DV-Kameras konnten ohne Probleme als Amateurkameras durchgehen. Verschiedene Faktoren führten zu diesem Entschluss &endash; die Ablehnung der Drehgenehmigung war bei weitem nicht die einzige. Die Dreharbeiten wurden schon mehrmals verschoben, und die Reise der Salzmänner findet nur einmal im Jahr statt. Ulrike Koch und Pio Corradi befanden sich schon in Lhassa. Pio Corradi kannte die DV schon gut, er hatte sie unter anderem auf dem Dokumentarfilm "Pestalozzi Export" von Tobias Wyss benutzt.
Der Toningenieur kam in Lhassa mit zwei Kameras Sony VX-1000 an, damit im Problemfall eine Ersatzkamera vorhanden wäre. Die Kameras wurden vor der Abreise von Swiss Effects eingerichtet, um das Bild der beiden Kameras untereinander anzugleichen und für den FAZ zu optimieren.
Der Entscheid für DV war kein freiwilliger Entschluss, sondern eine Produktionsnotwendigkeit. Heute ist Ulrike Koch den chinesischen Behörden im Nachhinein dankbar, dass diese die Drehgenehmigung verweigert hatten. Der Dreh auf DV ermöglichte eine andere Qualität der Annäherung an die Leute &endash; eine Intimität, die mit einer 16mm-Kamera und einem Kameraassistenten nicht hätte erreicht werden können. Dazu kamen eine grosse Beweglichkeit, eine schnellere Reaktionsfähigkeit und ein höheres Drehverhältnis (1:10 bei 16mm gegenüber 1:20 bei DV). Sie mussten bei diesem nicht wiederholbaren Ereignis nichts auslassen und konnten das Unerwartete filmen.
Gleichwohl hat die Equipe den Dreh nie als schnellen Video-Dreh aufgefasst: In bezug auf Ästhetik und Arbeitsweise wurde gearbeitet wie auf einem Filmdreh. Die Kamera wurde nicht laufengelassen in der Hoffnung, die Entscheidungen würden dann später im Schneideraum gefällt. Das zusätzliche Drehmaterial erlaubte es, auf Ereignisse, die während der Reise entdeckt wurden, eingehen zu können.
Die Einstellungen wurden von Pio Corradi speziell für die Eigenschaften der DV und für den vorgesehenen FAZ konzipiert. Als allgemeine Regel gilt es, zu grosse Kontraste zu vermeiden. Es kann auch Probleme geben bei Totalen, da die Videoauflösung viel kleiner ist als diejenige des Filmes: Die Vergrösserung des Bildes (Monitor &endash; Leinwand) spielt bei den Totalen viel mehr als bei den Grossaufnahmen. Oft hängt die Qualität einer Totalen aber viel mehr von subjektiven Kriterien (Lichtqualität, Geometrie des Bildes) ab als vom einfachen technischen Faktor der Bildauflösung.
Einer der Vorteile von Video ist es, dass man das Material schon während der Dreharbeiten anschauen kann. Aus Angst vor Drop outs begnügte sich Pio Corradi allerdings damit zu kontrollieren, ob auf der Kassette ein Bild aufgenommen wurde. Wegen Wind und Staub musste die Kamera in Plastik eingepackt werden, und alle Manipulationen mit den Kassetten waren sehr heikel.
Die oft gespannten Beziehungen zwischen Kamera und Ton sind noch komplizierter bei einem Dreh auf DV. Der Kameramann hat eine grössere Freiheit als der Toningenieur: Dank dem Steady-shot kann er ohne Stativ arbeiten; das geringe Gewicht und die schnelle Einrichtung der Kamera gibt dem Kameramann mehr Beweglichkeit, während der Toningenieur mit der immer noch gleich langen Stange arbeitet. Dazu weiss der Ton oft nicht, wann die Kamera dreht, und muss deshalb durchgehend aufnehmen. Schliesslich ist es ermüdender, eine Tonstange mit ausgestreckten Armen zu halten, als mit einer DV zu kadrieren.
Grösseres Drehverhältnis, längere Schnittzeit
Wer ein grösseres Drehverhältnis will, muss mehr Zeit im Schneideraum einrechnen. Es macht einen Unterschied, mit 10 oder 25 Stunden Material zu schneiden.
Auf Anraten von Swiss Effects wurde das ganze DV-Material gleichzeitig auf Digibeta und auf VHS überspielt. Diese Lösung hatte den Vorteil, in jedem Moment auf das ganze Bildmaterial Zugriff zu haben. Eine auf den ersten Blick billigere Lösung bestände darin, das Material auszumustern und nur die ausgewählten Einstellungen zu überspielen; dies rächt sich jedoch in dem Moment, wo man auf ein nicht überspieltes Bild zurückkommen möchte (zusätzliche Überspielkosten, Zeitverlust und längere Miete des Schneideraums). Die VHS-Kopie war von grossen Wert für Ulrike Koch, die sich damit vor dem Schnitt in das Material einarbeiten und parallel zur Arbeit der Cutterin weiter visionnieren konnte. Dies war sehr wertvoll, denn wegen den beschränkten Kapazitäten der Hard Disks war es unmöglich, das ganze Material in den Avid einzulesen. Die VHS-Kassetten erwiesen sich auch sehr nützlich für die Übersetzung.
Alfi Sinniger, der das erste Mal mit Video arbeitete, wunderte sich über die Zeit, die verging, bis der eigentliche Schnitt erst begann: Überspielung auf Digibeta und VHS, Ausmusterung und Einlesen des Materials in den Avid. Der Schnitt dauerte 20 Wochen, während das 16mm-Budget 18 Wochen vorsah. Wenn man weiss, dass ein Avid-Schneideraum ein Vielfaches kostet von einem 16mm-Schneideraum... Nach dem offline-Schnitt wurde der online-Schnitt in einem Studio gemacht. Wegen der besseren Qualität wurden die Filmtitel und die Untertitel optisch direkt auf Film realisiert. (In diesem Film sprechen die Leute manchmal eine Geheimsprache, die in den Untertiteln mit ikonographischen Zeichen übersetzt wurde, die in klassischer Untertitelung nicht darstellbar sind.) Nachteil dieser Technik: Das Videomaster enthält keine Titel und Untertitel.
Die Salzmänner in Tibet öffnen die Türen für die Finanzierung von DV-Produktionen
Ein Verdienst des Films von Ulrike Koch war es, den Geldgebern (Bundesamt für Kultur, Fernsehen) zu zeigen, dass es möglich ist, mit der DV-Kamera einen grossen Kinofilm zu machen.
Diese Bemerkung muss jedoch gleich wieder relativiert werden: Der Film ist ein grosser Film dank der Erfahrung und Arbeitsdisziplin der Equipe, dank der FAZ-Technologie und paradoxerweise auch dank des Budgets eines 16mm-Filmes. Dies hat eine optimale Postproduktion ermöglicht.
"Kein Geld? Drehen wir doch auf DV!"
Man hört oft den folgenden Satz: "Die nötige Finanzierung ist nicht zusammengekommen, also drehen wir auf DV." Wie der Budgetvergleich von Alfi Sinniger zwischen einer 16mm und einer DV-Produktion zeigt, sind die Ausgaben erstaunlicherweise praktisch identisch. Vergessen wir nicht, dass sich das Drehverhältnis verdoppelt.
Wir berühren hier einen grundsätzlichen Aspekt der DV-Ökonomie: Die Einsparungen bei Materialmiete und Verbrauchsmaterial werden durch die höheren Ausgaben bei der Postproduktion aufgesogen. Man muss deshalb sehr vorsichtig budgetieren, da die Kassen während der Postproduktion einiges leerer sind als während der Dreharbeiten.
Dieses Bild gilt natürlich nur für einen Film, der gefazt wird und dessen Bild und Titel von bester Qualität sein sollen. Im Falle einer Fernsehproduktion, wo das Endprodukt auf Video bleibt, sind die Unterschiede im Budget natürlich spürbarer.
Spielfilm auf DV?
Wie wir festgestellt haben, kann DV bei einer Dokumentarfilmproduktion viel bewirken, nicht nur auf der Ebene der Kosten, sondern auch jener der Arbeitsweise (Beweglichkeit gegenüber dem Subjekt, Intimität mit den gefilmten Leuten; grösseres Drehverhältnis dank tiefen Materialkosten). Aber wie steht es dann mit dem Spielfilm?
Das Beispiel von "Broken Silence" von Wolfgang Panzer, gedreht auf Hi8 und an&endash;schliessend gefazt, scheint zu überzeugen. Dieter Meyer, Toningenieur auf "Broken Silence" relativiert: Der Film ist eine Experiment, das mit den Grenzen spielt. Der Film wurde vollständig auf dokumentarischen Sets gedreht und brauchte unauffälliges Material, damit die Leute nicht in die Kamera schauen. Um Anschlüsse für den Schnitt zu ermöglichen, wurde zusätzlich mit drei bis vier Kameras gedreht, was auf 16mm unmöglich gewesen wäre. Beim diesem Film wurde aber von A bis Z, d.h. vom Drehbuch bis zum Schneidetisch an die Probleme eines Drehs in einem Amateurformat gedacht. Ein Beispiel nur: Da es unmöglich war, für den Ton zu angeln, hatten die Schauspieler Krawattenmikrophone in den Haaren. Im Drehbuch waren deshalb Hüte, Halstücher usw. vorgesehen.
Man kann sich auch über den Sinn fragen, eine ganze (teure) Filmequipe mit (teuren) Schauspielern zusammenzustellen, um sie dann vor und hinter eine DV-Kamera zu stellen...
Zusammenfassend gesagt, rechtfertigt sich der Spielfilm auf DV nur bei einer speziell gesuchten Ästhetik oder bei speziellen Drehbedingungen (Diskretion).
Ein Focal-Seminar unterstützt von Swiss Effects
Konzept: Tommaso Vergallo, Ueli Nüesch und Matthias Bürcher
Organisation: Elizabeth Waelchli
(Genf, 27. und 28. Februar 1998)
Zusammenfassung: Nicole Borgeat
Deutsche Übersetzung: Matthias Bürcher
Fürs Gegenlesen sei gedankt: Elizabeth Waelchli, Tommaso Vergallo, Ueli Nüesch